König, kleine Steine

 

Erinnerungen

 

 

Vorwort

 

 

Es gibt Erinnerungen die sich tief ins Gedächtnis einprägen. Manche Geschehnisse bleiben als Bilder oder sogar wie ein Film auch nach Jahrzehnten so lebendig als ob sie sich gerade erst ereignet hätten. Selbst Gerüche wecken Assoziationen an längst Vergangenes. Wie zum Beispiel 1948 anlässlich der Weihe des späteren Kardinals Julius Döpfner zum Bischof von Würzburg. Wir sollten als Schüler des Realgymnasiums an der Straße Spalier stehen um der vorbeiziehenden Prozession zur Neumünsterkirche Ehre zu erweisen. Das war viel zu langweilig. Deshalb kletterten wir in die Ruinen, um das Schauspiel von oben anzusehen. Die Geschäftsbücher des Kaufhauses lagen zuhauf als verkohlte Papierstapel herum. Sie strömten noch immer den Brandgeruch des Bombenangriffs vor 3 Jahren aus. Heutzutage sehe ich beim Grillen, wenn der Qualm hochsteigt, ungewollt die scharzen noch nicht völlig zur Asche zerfallenen Überreste der ehemaligen Geschäftigkeit.

 

Auch scheinbar Unwichtiges hinterlässt unvergäng-liche Eindrücke. Das geschah ebenfalls bei der Prozession zur Neumünsterkirche. Nach den kirchlichen Würdeträgern schritten die Ehrengäste in dem langen Zug. Die Damen trugen weiße Handschuhe, die bis zu den Ellenbogen reichten. Ein unvorstellbarer Luxus im Jahre 1948. Nicht nur Bilder und Gerüche hinterlassen Ihre Eindrücke im Gedächtnis. Auch Geräusche und Stimmen bleiben ein Leben lang erhalten. Das Dröhnen der Flugzeuggeschwader klingt beim Kreisen eines Motorfliegers unweigerlich im Ohr und lässt mich ducken, gleichsam wie einer Gefahr entgehen. Und die Worte meines Vaters "König, kleine Steine" wirkt nach, wenn es gilt eine Aufgabe zu erledigen.

 

 

 

König, kleine Steine

 

Erinnerungen eines 7-jährigen

 

Februar 1945. Wir wohnten am Ortsrand Würzburgs in einem Dorf in einem 2-Familien-Siedlerhaus im 1. Stock. Eine Wohnung, geteilt mit einer anderen Familie.

 

Über uns im Dach wohnten Herr und Frau König. Frau König hatte ein knatschrotes Gesicht. Es wurde geflüstert, sie benutze eine Wurzelbürste zum Waschen. Seife war damals Mangelware. Vielleicht stimmte das Gerücht - oder auch nicht.

Herr König hinkte ein wenig und er war für mich schon alt. Im Nachhinein schätze ich ihn auf 40, aber als Siebenjähriger findet man das schon sehr alt. Er war gar nicht eingezogen, warum das so war wusste ich nicht, wahrscheinlich hing es mit seiner Behinderung zusammen, vielleicht eine Kriegsverletzung. Ich dachte auch nicht weiter darüber nach.

 

Unter uns wohnte der Hausbesitzer Müller mit Frau und zwei Töchtern. Er hatte einen Hund, der wurde überfahren. Herr Müller war sehr traurig, was sollte er mit dem toten Hund machen? Beerdigen? Eigentlich zu schade. Er setzte in einem großen Topf Wasser auf, zerlegte den Hund und kochte eine feine Suppe. Ich durfte auch davon probieren.

 

Einen wackligen Milchbackenzahn zog er mir mit einer alten rostigen Flachzange. Es blutete nur ein ganz klein wenig. Das kannte ich schon, es war ja nicht der erste Zahn.

Herr Müller war tatsächlich schon alt, pensionierter Schul-Hausmeister. Er fütterte eine Ziege, mehrere Stallhasen und eine Hühnerschaar auf seinem großen Grundstück. Früher hatte man dort sogar Wein angebaut. Weil er zu sauer war, wurde die Winzerei aufgegeben.

 

Es gab außerdem einen Steinbruch. Einige größere Kalksteinblöcke lagen noch herum. Das Interessanteste waren die beiden Brennöfen für die Kalkherstellung. In Betrieb waren sie schon lange nicht mehr. Sie lagen im Berghang, oben ein riesiges gemauertes Loch, das war der Einwurf in den die Steine gekippt wurden und unten ein tunnelartiger Zugang in der Größe einer Kammer, wo wohl das Feuer gemacht wurde um den Kalk zu brennen und wo der gebrannte Kalk herausgeschafft wurde.

 

Bei Fliegeralarm rannten wir immer in den Keller. Damals wurde Schweinfurt bombardiert. Das kannten wir schon aus dem Rheinland, wo wir vor der Evakuierung wohnten. Wir sahen den roten Feuerschein am Himmel und wussten was dort geschah. Meinem Vater schien der Keller jetzt nicht mehr sicher genug. Das Haus wäre bei einem Bombentreffer sicher völlig zerstört worden und wir wären nicht mehr lebend heraus gekommen. Dazu kam die Angst vor Artilleriebeschuss und den anrückenden Amerikanern.

Mein Vater war nicht im Krieg. Er hatte viel mit der Lederversorgung zu tun und deshalb musste er zu Hause bleiben - uk-gestellt hieß das. In einer stillgelegten Matratzenfabrik war das Lederlager eingerichtet worden. Leder war damals etwas ganz Wertvolles. Man bekam dafür alles: Brot, Butter, Stoff und sogar Zement. Davon wurden eines Tages auf einem Karren einige Säcke angeliefert. Das war spannend!

 

Tags darauf trommelte mein Vater alle Hausbewohner zusammen und erklärte sein Vorhaben: "Der Brennofen wird zum Luftschutzbunker umgebaut". Die Öffnung zwischen dem Einwurf und der Kammer wurde zugemauert. Dann wurden in den Einwurf von oben ganz viele Steine gekippt, bis die Öffnung reichlich zugedeckt war.

Anschließend wurde vor dem Eingang eine dicke zweischalige Mauer als Splitterschutz gebaut. Die Erwachsenen schleppten große, schwere Steine für die Außenseiten herbei. Die Arbeit ging schnell voran. Zwischen die Außenseiten kamen kleinere Steine als Füllmaterial. Das ging nicht so schnell, zumal es die Aufgabe von Herrn König war. "König, kleine Steine!" rief mein Vater alle paar Minuten, "König, kleine Steine" und wieder "König, kleine Steine!"

 

Als die Mauer fertig war, ging es an den Innenausbau. Aus Latten wurden Etagenbetten zusammengenagelt. Eine alte Autobatterie wurde mit ein paar Taschenlampenbirnchen verbunden, das war die Beleuchtung. Bei jedem Bombenmalarm stürmten wir von da an über den Hof in unseren Bunker.

 

Am 16. März 1945 kam mein Vater gegen Abend nach Hause. Er hatte mit einigen Freunden gefeiert, irgendwie hatten sie ein paar Flaschen Wein aufgetrieben und geleert. Es war wieder Bombenalarm. Von Ferne hörte man das Dröhnen der Flugzeuge. Wir standen vor dem Bunker. Schon wieder Schweinfurt? Das Dröhnen kam näher und dann wurde es am Himmel bunt. "Christbäume" schwebten herab, zwei oder drei Kilometer von uns entfernt mitten über Würzburg. Wir verzogen uns in den schützenden Bunker. Und dann ging es los.

Detonation auf Detonation, ein Gewitter aus Explosionen und Krachen. Der Himmel voll Rauch und Feuer. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte. Zwischendurch ging mein Vater hinaus, um sich das "Schauspiel" anzusehen. Voller Verzweiflung und Sarkasmus rief er "Das muss doch kaputt zu kriegen sein, das muss doch kaputt zu kriegen sein!" Nun, er hat Recht bekommen. Würzburg, eine Lazarettstadt ohne kriegswichtige Bedeutung lag in Schutt und Asche.

 

Der Angriff war vorüber. Wir verließen unseren Bunker. Die Straße aus Würzburg führte an unserem Haus vorbei. Ein endloser Zug von Menschen bewegte sich stadtauswärts. Männer mit einem Bein auf Krücken, andere den Kopf dick verbunden, wieder andere die Arme in Gips: Das waren die aus den Lazaretten. Wieder andere mit Kindern an der Hand oder auf dem Arm, Frauen, alte Leute, abgerissen, verdreckt, gebeugt, mit schleppendem Gang: Die übrige Bevölkerung. Sie zogen an uns vorüber, die ganze Nacht.

Ein Freund meines Vaters kam gegen Mitternacht zu uns mit seiner Frau. Nachmittags hatten sie noch zusammen gefeiert. Sie hatten eine Holzfigur dabei, es war alles was sie gerettet hatten. Der Mann legte sich bäuchlings auf unsere Couch und meine Mutter zog ihm mit einer Pinzette die Splitter aus dem Rücken.

 

Von diesem Tag an gingen wir Kinder nicht mehr zur Schule. So konnte ich sehen, wie auf dem Dorfplatz der Volkssturm exerzierte. Das war ein zusammengewürfelter Haufen von Männern, die nicht zum Kriegsdienst eingezogen waren, wegen Untauglichkeit oder Unabkömmlichkeit. Mein Vater winkte mir zu, als der Vorgesetzte gerade mal nicht hinsah. Der Volkssturm musste längs der Straße Löcher ausheben. Dort sollten sie sich verstecken und die angreifenden Feinde zurückschlagen. Dazu hatten sie sogar ein oder zwei Panzerfäuste bekommen. Mein Vater war für den Nahkampf mit einer Pistole bewaffnet.

 

Einige Wochen später zogen eines Tages wieder viele Männer auf der Straße an unserem Haus vorbei, einzeln oder in kleinen Gruppen, Soldaten auf dem Rückzug zu einer Auffanglinie irgendwo ein paar Kilometer weiter. Die Frauen aus der Nachbarschaft kochten in unserem Hof in einem großen Kessel eine Suppe, deren Hauptbestandteil warmes Wasser war. Die Soldaten nahmen es dankbar an. Es war eine aufgeregte und gleichzeitig fast heitere Stimmung an diesem Tag.

Mein Vater vergrub seine Pistole auf dem Grundstück unseres Hausbesitzers. Ich erzählte irgendwo stolz, ich wüsste, wo die Pistole liegt. Als ich nachschaute, ob sie immer noch da liegt, war sie nicht mehr da. Ich bekam am Rande mit, dass mein Vater nicht glücklich war, dass ich mit meinem Wissen über das Pistolenversteck angegeben hatte. Jedenfalls durfte ich von da an nicht mehr an das Telefon gehen, egal wie lange es klingelte. Das Verbot war derart unmissverständlich und absolut, dass ich noch viele Jahre später Probleme hatte zu telefonieren.

Für das Verbot gab es noch einen weiteren Grund: Der Ortsgruppenführer war plötzlich verschwunden. Man brauchte einen neuen Mann für diesen Posten. Als schnell verfügbarer Ersatz wurde mein Vater auserwählt. Das erfuhr er durch eine Indiskretion der Tochter des Hausbesitzers, die in der Gemeindeverwaltung arbeitete, eine halbe Stunde vor dem Erscheinen der Leute, die ihn auserkoren hatten. Dieser Posten hätte ihm größte Probleme bereitet, wenn die Amerikaner, deren Einmarsch in Kürze zu erwarten war, dies erfuhren. Er musste deshalb von einem Moment zum anderen verschwinden und sich für einige Tage verstecken. Niemand durfte erfahren, wo er sich aufhielt. Auch der kleinste Hinweis hätte ihn das Leben kosten können.

 

Als er zwischendurch einmal unerwartet auftauchte, wurden im Küchenherd viele Bücher verbrannt. Bücher verbrennen ist gar nicht so einfach. Die Asche erstickt die Flamme. Die Ringe der Herdplatte wurden heraus genommen, um mit dem Schürhaken die Asche durch den Rost in den Aschkasten zu stochern. Ich verstand das Vorgehen nicht, weil wir doch im Herbst genügend Holz gemacht hatten.

 

Baumstämme waren zersägt, zu Scheiten zerhackt und an der Hauswand aufgeschichtet worden. Es war noch ein reichlicher Vorrat vorhanden. Ganz schlimm fand ich, wie er mein Spielzeuggewehr über dem Knie auseinanderbrach und auch ins Feuer steckte. Man hätte es doch hinter der Haustüre vor den Feinden verbergen können, meinte ich. Mein Vater war unbarmherzig: "Wenn die das sehen, glauben die, wir wollten uns gegen sie wehren, dann erschießen sie uns". Ich habe geweint, nicht wegen des Erschießens, sondern um das Gewehr.

 

Wenige Tage später erschien ein Jeep aus Richtung Würzburg. Er blieb einige Zeit am Ortsrand stehen und drehte dann wieder um. Das erschien mir sehr merkwürdig. Nicht lange danach hörte man den Ortsdiener mit seiner Schelle die Straße entlang kommen. Alle sollen weiße Fahnen heraushängen war seine hektisch verkündete Botschaft. Weiße Fahnen? So etwas war nicht vorgesehen. Ein Bettlaken als Fahnenersatz war jedoch schnell gefunden und hing wenige Minuten später aus dem Schlafzimmerfenster heraus an der Hauswand. Die anderen Häuser zeigten in gleicher Weise die Bereitschaft ihrer Bewohner, sich friedlich auf den Empfang der Befreier einzustellen.

 

Und dann kamen sie. Tief gebückt die ersten Reihen, das Gewehr im Anschlag, jeden Moment bereit sich hinzuwerfen und auf alles zu schießen. Danach aufrecht gehend, das Gewehr in der Hand. Eines fiel mir auf: die strammen Hintern in den Uniformen.

 

Kurz zuvor hatte ich ja noch den deutschen Rückzug erlebt: schlotterige Hosen an abgemagerten Männern. Eine ältere Nachbarin wuselte sich, mit einer Hand taschentuchschwenkend, quer durch die Marschkolonnen der Amerikaner, einen Krug mit Magerbier in der anderen Hand. Ich bekam Angst um sie, aber niemand tat ihr was. ein irrationales Geschehen.

 

Gegenüber von unserem Haus war eine Wiese. Die "Amis" hoben viereckige flache Löcher aus und stellten Artilleriegeschütze hinein, die auf unser Haus zeigten. Ein Junge, der ein bisschen Englisch konnte, wurde hingeschickt um zu fragen, ob das für uns gefährlich sei. Sehr lässig gab man ihm Bescheid, es würde uns nichts passieren, die Granaten würden über unser Haus und den dahinter liegenden Hügel fliegen auf die jenseitigen deutschen Stellungen, wir könnten beruhigt schlafen. Dennoch suchten wir in unserem Bunker Schutz.

Ich weiß nicht, wie lange die Geschütze dort standen. Wahrscheinlich waren es nur ein paar Tage bis sie weiterzogen. Dafür erschienen jetzt ganz andere Amis. Sie verlangten, dass wir innerhalb von ein paar Stunden unsere Wohnung verlassen. Alle Möbel mussten da bleiben, nur das Notwendigste und Tragbare durfte mitgenommen werden. Wir zogen in die stillgelegten Werkhallen der Matratzenfabrik, in der das Lederlager untergebracht war. Alles war primitiv und provisorisch. Als Kind nimmt man das einfach so hin. Es ist halt so, eher ein Abenteuer.

 

Im anschließenden Teil der Werkhallen wurden Truppen einquartiert. "Schwarze". Ich konnte sie erst überhaupt nicht auseinanderhalten, sie sahen für mich alle gleich aus. Meine Mutter hatte Angst vor Vergewaltigungen. Deshalb wurde eine Ausgangstür des Lagers als Notausgang hinter einem Schrank versteckt. Doch die "Schwarzen"  waren sehr lieb. Meine Mutter machte mit ihnen Tauschgeschäfte: Sie erhielt eine Zitrone, damals etwas Besonderes. Dafür bekamen die "Schwarzen" einen Schnaps. Eigentlich waren diese Kontakte verboten und Alkohol verboten. Vor den weißen Offizieren musste das verheimlicht werden.

Die "Schwarzen" spielten in ihrer Freizeit ein Ballspiel, bei dem mir, weil ich neugierig zuschaute, ein harter Ball an den Kopf flog. Ich wurde mit Schokolade überhäuft. Aus ihren Abfalleimern klaubte ich Zigaretten, die von meinen Eltern gegen andere Dinge eingetauscht wurden. Das durften die Offiziere nicht mitbekommen. Alles, was verboten war, z. B. Alkohol trinken, Kontakt mit den Besiegten, wurde mit Prügel bestraft. Die Offiziere führten zu diesem Zweck Peitschen mit.

 

Am Ortsrand kippten die Amis ihren Abfall ab. Das war ein Paradies für uns Kinder. Apfelsinen, Zigaretten, Kaffeebohnen und vieles mehr konnten wir dort aussortieren und heimbringen.

Die Amerikaner registrierten und beschlagnahmten alle Warenbestände im Lager meines Vaters, unter anderem 7 Ballen Leder. Leder in Ballen wurde normalerweise gewogen. Die Amerikaner haben aber nur gezählt. Das nutzte mein Vater aus: von den 7 dicken Lederballen wurde jeweils ein Teil abgezweigt und bei Seite geschafft. Auf diese Weise konnte er den Betrieb notdürftig aufrecht erhalten und das kam unserer Familie indirekt auch zu Gute.

 

Im Herbst fing die Schule wieder an. Damit endete die Zeit der längsten und von unvergessbaren Eindrücken geprägten Ferien meines Lebens.

 

Der Autor

Otto Röver

wurde 1937 geboren.

Die Familie lebte

In Düsseldorf.

Die Firma des Vaters

wurde 1943 durch

Bombenangriffe zerstört.

Sie wurde deshalb nach

Würzburg verlegt.

Röver besuchte dort

die Grundschule und das

Real-Gymnasium.

Die Familie zog 1949

wieder nach Düsseldorf.

Nach Heirat und beruflich

bedingtem Aufenthalt

in Frankreich

wurde 1985 Nürnberg

der neue Wohnsitz.

 

Nürnberg im Jahre 2020

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